Mittwoch, 30. November 2011


Zur Grundausbildung der pensionierten Polizistin Christine Kobel gehört eine Handelsschule in Neuenburg und eine Schalterlehre bei der PTT. Nach sechs Wanderjahren auf verschiedenen Poststellen und 12 Jahren im Auskunfts- und Reisebüro der SBB absolvierte sie die Polizeischule. Über 20 Jahre arbeitete sie bei der Kripo der Stadtpolizei Bern. Davon die letzten 13 Jahre im Rahmen Sittendezernat, allgemeine Stadtkriminalität und Rotlichtmilieu. Sie war in unzählige Fälle von häuslicher und sexueller Gewalt gegen Kinder und Frauen involviert, war unter anderem zuständig für Delikte innerhalb der Familie, Gewalt bei Schulkindern, sexuelle Verdachtssituationen und für die Umsetzung vormundschaftlicher Entscheide. Die grosse Erfahrung, welche sie bei der Polizei gesammelt hat, hilft ihr noch heute, herausfordernde Alltagssituationen zu meistern.

Wofür setzten Sie sich ein?
Die Glaubwürdigkeit der Opfer bestmöglich festzuhalten und Hilfe anzubieten. Es ist gerade bei Kindern und Jugendlichen oder häufig auch per Zufall, zum Beispiel bei Familienstreitigkeiten oder Nachtlärm,  vorgekommen, dass bei den Ermittlungen desolate Familienzustände angetroffen wurden. Durch die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt oder der Vormundschaftsbehörde konnten viele Situationen von Kindern oder Jugendlichen verbessert werden. Leider blieben viele Ausgänge auch unbefriedigend. Es wurde zwar sehr deutlich, dass etwas nicht in Ordnung war, wurde aber nicht fassbar. Eine wichtige Hilfe war es zum Beispiel, dem Opfer eine Visitenkarte mitzugeben und die Möglichkeit aufzuzeigen, Dinge, die mündlich nicht gesagt werden konnten, in einem Brief abzufassen und nachzureichen. In solchen Fällen bestand auch die Möglichkeit, die briefliche Aussage direkt an den Untersuchungsrichter oder die Untersuchungsrichterin weiter zu leiten, ohne das Opfer vorgängig nochmals zu befragen. Wertvoll war auch, dass Frauen in die Frauenklinik gebracht werden konnten und gewährleistet war, dass ihnen dort Hilfsangebote aufgezeigt wurden. Um die Glaubwürdigkeit der Opfer festhalten zu können, war es wichtig, die Aussagen möglichst wortgetreu auf Papier zu bringen, und auch das Auftreten, das Verhalten und den Gefühlszustand des Opfers festzuhalten: Beispielsweise zu dokumentieren, wenn eine Frau geweint hat, oder wenn es notwendig war, eine Pause einzulegen, weil es sehr schwer fiel, eine Aussage zu machen. Wichtig war auch, aufmerksam mit allfälligen Bagatellisierungen umzugehen.

Was bewegte Sie in Ihrer Arbeit?
Zum einen die Hilflosigkeit mancher ausländischer Frauen, welche Männern oder Clans ausgeliefert und grosser Unterdrückung sowie extremer Kontrolle unterworfen sind, und die mittels massiver Drohungen daran gehindert werden, sich zur Wehr zu setzen. Da gab es zum Beispiel den Fall einer Jugendlichen, die aus dem 8. Stock gesprungen ist, weil sie verheiratet werden sollte. Sie hat überlebt und konnte Unterstützung finden. Sie hat ein grosses Risiko auf sich genommen und konnte sich so zur Wehr setzen. Anderen Frauen oder Mädchen gelingt das nicht.
Zum anderen bewegten mich die zunehmenden Falschanzeigen angeblicher Opfer. Es gab Phasen, da waren bis zu 50% der Anzeigen Falschanzeigen. In solchen Situationen wurden das Engagement und die Motivation auf die Probe gestellt. Helfen konnte dabei, sich die Not vor Augen zu führen, die- wie sich häufig herausstellte- hinter einer Falschanzeige stehen konnte.

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Die Vernetzungen mit den zuständigen Institutionen. Gegenseitiges Verständnis.

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die noch stattfinden müssen?
Dass nur Sachbearbeiter mit entsprechendem Interesse an die Opfer gelassen werden. Das Vertrauen ist schneller verchachelet als wieder hergestellt. Für diese Arbeit ist es wichtig, alle Aussagen grundsätzlich ernst zu nehmen. Ein Opfer darf sich bei einer Befragung nicht in Frage gestellt fühlen, auch wenn eine Situation auf den ersten Blick eher unwahrscheinlich erscheint oder das Opfer von früheren Anzeigen bereits bekannt ist. Es ist wichtig, dass Polizistinnen und Polizisten, welche mit dieser Tätigkeit beginnen, sorgfältig eingeführt und begleitet werden und sich auch frei entscheiden können, ob sie weiter in diesem Bereich arbeiten wollen. Neueinsteigende sollen sich bei Schwierigkeiten oder angstbehafteten Situationen Unterstützung holen können, so dass es ihnen gelingt, Sicherheit zu vermitteln.

Wer ist für Sie ein Vorbild zu diesem Thema?
Dr. Ursula Klopfstein, Gerichtsmedizinerin. Ihre Professionalität, sie hat uns Sachbearbeitern viel gelehrt, was wichtig ist bei Sexualdelikten. Einmalig! Frau Klopfstein hat uns in regelmässig stattfindenden Zusammenkünften sehr wertvolle Hinweise zur Spurensicherung gegeben. Auch war ihre feinfühlige und sorgfältige Art, Opfer zu untersuchen, sehr beeindruckend.


Dienstag, 29. November 2011


Ursula Stalder ist Sozialarbeiterin und Systemtherapeutin. Seit 2006 ist sie als Beraterin bei der LANTANA, Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt tätig. Bereits an ihrer früheren Arbeitsstelle als Erziehungsleiterin in der Viktoria-Stiftung in Richigen war sexuelle Gewalt ein präsentes Thema: Fast alle weiblichen Bewohnerinnen auf den einzelnen Gruppen waren in ihrem Leben mehr oder weniger von sexueller Gewalt betroffen. 

Wofür setzen Sie sich ein?
Ich denke, dass die Verletzung der sexuellen Integrität eine der traumatischsten Erfahrungen ist, die einem Menschen widerfahren kann. Es ist mir ein grosses Anliegen, weibliche Betroffene bei der Bewältigung dieses Traumas zu unterstützen. In meiner aktuellen Arbeitsstelle setze ich mich ein für die Umsetzung des Opferhilfegesetzes, für die Rechte der Betroffenen in unserer Gesellschaft, für die Umsetzung der Gleichstellung von Frau und Mann, für Frauenrechtsanliegen. 

Was bewegt Sie in ihrer Arbeit?
Die anwaltschaftliche Arbeit, das vielseitige Angebot der Opferhilfe, die Begleitung von Klientinnen, sie dabei zu unterstützen aus traumatischen Situationen heraus zu kommen, sie zu befähigen, ihre eigenen Ressourcen wieder zu finden, für sich zu nutzen und aktiv zu werden, miterleben zu dürfen, wie Klientinnen es schaffen, trotz manchmal schwierigster Prozesse, sich ihr eigenes Leben zurück zu erobern und das Trauma zu verarbeiten- all dies bewegt mich in meiner Arbeit.

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Die Hemmschwelle, Beratung bei LANTANA zu beanspruchen, ist in den letzten Jahren gesunken (dies auch bei Fachpersonen). Im Justiz-Bereich (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) hat die Sensibilisierung für das Thema sexuelle Gewalt zugenommen, die Bereitschaft, die betroffenen Frauen Ernst zu nehmen ist gestiegen. Das Thema sexuelle Gewalt wurde und wird zunehmend enttabuisiert, ein gesellschaftlicher Bewusstwerdungsprozess, eine allgemeine Sensibilisierung findet statt. Gründe für diese erfreuliche Entwicklung dürften sein: Öffentlichkeitsarbeit, Thematisierung in den Medien, offene Berichterstattung bei Strafprozessen, vielleicht auch mehr Solidarität unter Frauen über die Generationen hinweg.

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die noch stattfinden müssen?
Öffentliche Gelder sollten noch vermehrt in der Prävention eingesetzt werden. Differenzierte, fundierte Informationen für alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes sind dringend nötig. Die konsequente Enttabuisierung gilt es voran zu treiben. In der Bevölkerung geistern viele Halbwahrheiten herum. Mit mehr Information wird das "wirkliche" Wissen gefördert, der Schutz aller Bevölkerungsschichten vor sexuellen Übergriffen wird erhöht.

Wer ist für Sie ein Vorbild?
Ein eigentliches Vorbild habe ich nicht. Meine Bewunderung und mein Respekt gelten aber jenen Frauen, die vor vielen Jahren damit begannen, trotz grosser Widerstände, das private Leid der Betroffenen von sexueller Gewalt öffentlich zu machen, die aus eigener Initiative Beratungsstellen aufbauten, die die Opfer nicht mehr alleine lassen wollten. 

Montag, 28. November 2011


Dr. med. Corinna Schön studierte Humanmedizin und arbeitet heute als Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern. Sie betreut Frauen nach sexueller Gewalt und ist dabei für die Spurensicherung beim Opfer und die Bearbeitung forensischer Fragestellungen zuständig.

Liebe Corinna Schön, Sie haben in Ihrer Arbeit  immer wieder mit sexueller Gewalt zu tun. Wofür setzen Sie sich ein?
Im Rahmen des Berner Modells setze ich mich für Frauen ein, die sexuelle Gewalt erlitten haben. Wir versuchen hierbei, die Untersuchungsabläufe zu optimieren und den betroffenen Frauen einen Rahmen zu bieten, in dem sie sich rechtsmedizinisch untersuchen lassen können und eine möglichst optimale und umfassende medizinische Betreuung erhalten. Abgesehen von der medizinischen Betreuung wird durch die Beteiligung der Rechtsmedizin bei der Untersuchung eine Spurensicherung und Dokumentation allfälliger Verletzungen gewährleistet, was im Fall eines Strafverfahrens von grosser Bedeutung sein kann. Zudem ist es auch wichtig, dass, sofern möglich, infektiologische Untersuchungen auf sexuell übertragbare Erkrankungen bei bekannten Tatverdächtigen veranlasst werden und die Frauen je nach Ergebnis entsprechend weiterbehandelt werden können. 
Ferner halte ich immer wieder Fortbildungen in Spitälern oder bei der Polizei. Gerade ausserhalb des Kantons Bern (Solothurn, Aargau), in welchen Konzepte wie das Berner Modell nicht existieren, ist es wichtig, die Gynäkologinnen entsprechend fortzubilden, da diese die Untersuchungen hier alleine, ohne Mithilfe der Rechtsmedizin, durchführen müssen.  

Was bewegt Sie bei Ihrer Arbeit?
Oft sind die Schicksale der betroffenen Frauen sehr bewegend, wobei hier sicher angemerkt werden muss, dass unser rechtsmedizinischer Alltag eigentlich fast nur aus schweren Schicksalen besteht! Bei lebenden Personen, die durch uns untersucht werden, können wir mit unserem Einsatz auch als nicht klinisch tätige Ärzte  etwas für die Betroffenen tun, auch wenn sie dies zum Zeitpunkt der Untersuchung manchmal nicht  erkennen, den Sinn hinterfragen und in seltenen Fällen eine Untersuchung sogar ablehnen.

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Aktuell arbeiten wir daran, die Untersuchung von Tatverdächtigen zu optimieren und die Ergebnisse infektiologischer Untersuchungen (zum Beispiel auf HIV) den die Frau behandelnden Ärzten zukommen zu lassen. Dies ist wichtig, damit betroffene Frauen bei negativem Ergebnis nicht unnötig lange eine medikamentöse Prophylaxe gegen HIV einnehmen müssen, da diese starke Nebenwirkungen hat und somit sehr belastend sein kann. Leider ist dieses Vorgehen in Zusammenarbeit mit den Strafuntersuchungsbehörden nur in Fällen mit polizeilicher Anzeige und eben bekanntem Tatverdächtigen möglich.

Welche Entwicklungen würden Sie sich noch für die Zukunft wünschen?
Es wäre wünschenswert, dass möglichst in allen Kantonen Konzepte wie das Berner Modell verwirklicht werden könnten, um die fachmännische Betreuung betroffener Frauen auch aus rechtsmedizinischer Sicht zu gewährleisten. Dies ist aufgrund eines Mangels entsprechend ausgebildeter Personen aktuell leider nicht der Fall, so dass vielerorts betroffene Frauen wahrscheinlich nur unter medizinischen, jedoch nicht forensischen Gesichtspunkten untersucht und behandelt werden.

Wer war Ihnen in Ihrer Arbeit ein Vorbild?
Dr. med. Ursula Klopfstein. Sie war während meiner Ausbildungzeit meine Oberärztin, die sich sehr für die klinische Rechtsmedizin, also die Untersuchung lebender Personen nach erlittener Gewalt allgemein, und somit auch für das Berner Modell eingesetzt hat.

Samstag, 26. November 2011


Eelke Schmutz-de Jager absolvierte ihre Ausbildung als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Utrecht (NL), Berlin und Bern. Lange Jahre führte sie in Bern eine Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie für Jugendliche und Erwachsene und betreute viele Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Seit kurzem befindet sie sich im Ruhestand und freut sich über die Zeit, die sie ihrem Enkelkind widmen kann. 

Wofür setzten Sie sich ein?
Als ich von 1988 bis 1995 auf der Familienplanung arbeitete, untersuchte ich im Rahmen des „Berner Modells“ Frauen nach einer Vergewaltigung. Dies in Zusammenarbeit mit den ÄrztInnen des „Instituts für Rechtsmedizin“, welches  für die Spurensicherung verantwortlich war. Bald schon wurde mir bewusst, dass die Spurensicherung zwar für einen allfälligen Gerichtsprozess wichtig ist, aber dass eine Vergewaltigung zu massiven Spätfolgen führen kann und dass das Leben dieser Frauen dadurch in grossem Mass beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund habe ich Zusatzausbildungen absolviert, um das nötige Rüstzeug zu bekommen, um solche Spätfolgen besser therapieren zu können. Eine solche Zusatzausbildung war das „Eye Movement Desensitization und Reprocessing (EMDR)“. Dies ist eine von Francine Shapiro in den USA entwickelte Behandlungsmethode für Trauma-Betroffene. Durch diese Methode ist es möglich, eine Integration des Erlebten zu erreichen und flash-backs wirksam zu therapieren. Als weitere hilfreiche Methode kann das EFT (Emotional Freedom Techniques) nach David Feinstein und Gary Craig genannt werden. Dies ist eine Klopftechnik der verschiedenen Akupressurpunkte. Sie hat den Vorteil, dass die Betroffenen selber zwischen den Sitzungen bestimmte Akupressurpunkte klopfen und dadurch ihre Anspannung reduzieren können. In meiner eigenen Praxis konnte ich das Gelernte anwenden. Für die Behandlung von Frauen nach erlebter sexueller Gewalt war mir wichtig:
  • Das Akzeptieren von Grenzen, die durch die Opfer signalisiert werden,
  • Das Erreichbar-Sein,
  • Vermeiden von Generalisierungen, welche die Erlebnisse der Frauen relativieren;
  • Die Frauen in dem, was sie erzählen ernst zu nehmen und bestätigen, dass das, was sie erlebt haben, wirklich sehr schlimm ist.
Ein Beispiel: Wenn ich mit der EMDR gearbeitet habe, kam es regelmässig vor, dass der zu erwartende Rückgang der allgemeinen Belastung stagniert hat. Ein Grund dafür konnte das Aufsteigen von Schuldgefühlen sein, wie zum Beispiel „ich wollte es doch auch“, speziell bei Inzestopfern. Hier habe ich versucht, eine Distanz zum eigenen Erleben zu schaffen, zum Beispiel durch die Frage: „Wenn die Tochter Ihrer besten Freundin das erlebt hätte, was Sie erlebt haben, würden Sie dann auch sagen, sie sei mit schuldig?“ Darauf kam immer die spontane Antwort: „Nein“. Dadurch wurden die eigenen Schuldgefühle aufgelöst. 
Sehr hilfreich war für mich auch das empfehlenswerte Buch von Richard Schwartz: Psychotherapie mit der inneren Familie.
Bei Situationen nach sexueller Gewalt habe ich in meiner Zeit als Therapeutin die Zusammenarbeit mit der Fachstelle Lantana und der Beratungsstelle „Opferhilfe“  sehr schätzen gelernt. 

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Eine wichtige Veränderung ist, dass Gewalt in der Ehe heute strafbar ist. 

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die noch stattfinden müssen?
Für mich ist die Prävention sehr zentral. Der respektvolle Umgang zwischen Mann und Frau (Vorbildfunktion für die Kinder). Dazu gehört, dass vor allem Mädchen lernen können, ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Die Mädchen sollen lernen, Nein zu sagen, und sich selbst dabei auch ernst zu nehmen. Sie müssen die Erfahrung machen können– zum Beispiel in der Therapie- dass von ihnen gesetzte Grenzen auch respektiert werden und müssen ermutigt werden, das dann im alltäglichen Leben auch anzuwenden.  
Ein ungelöstes Problem sind die Gerichtsverhandlungen, bei denen oft Aussage gegen Aussage steht. Wenn dabei der mutmassliche Täter freigesprochen wird, kann das zu einer weiteren Traumatisierung der Frau führen. 

Wer ist für Sie ein Vorbild zu diesem Thema? 
Zu Vorbildern wurden für mich die betroffenen Frauen, von denen ich während der gemeinsamen Arbeit viel gelernt habe. Ich habe die Erlebnisse der betroffenen Frauen zwar selber nicht erlebt, aber ich habe durch die Therapien viele Geschichten kennen gelernt, die ich entfremden konnte und aus denen ich Lösungsangebote konstruiert habe, aus denen die Klientinnen für sich hilfreiche Strategien auswählen konnten. Ich habe sie ermutigt, nur das auszuwählen, was sie brauchen können und den Rest auf den Kompost zu werfen.

Freitag, 25. November 2011




Dr. med Christa Spycher ist Ärztin für psycho-soziale Medizin und hat eine Ausbildung in Gruppentherapie. Sie arbeitete viele Jahre, zwischen 1970 und 1998, als Ärztin in Lateinamerika und von 1990 bis 1996 und 1999 bis 2005 im Zentrum für Familienplanung der Frauenklinik des Inselspitals, wo sie sich für das „Berner Modell“ bei sexueller Gewalt engagierte. 

Christa Spycher, Sie hatten bei Ihrer Arbeit immer wieder mit sexueller Gewalt zu tun. Inwiefern? 
In Lateinamerika arbeitete ich jeweils mit marginierten Gruppen in der Stadt, aber auch in sehr abgelegenen ländlichen Gegenden. Meine Tätigkeit betraf vor allem Aspekte der Basisgesundheit, Prävention und Ausbildung; vor allem mit Frauen. Die strukturelle Gewalt war omnipräsent. Die Rechte der Frau auf Selbstbestimmung und auf (sexuelle) Gesundheit mussten ein wesentliches Thema von Prävention und Ausbildung sein, wenn aus gesundheitlicher Perspektive ein Beitrag geleistet werden sollte zur Kommunalentwicklung. Als Ärztin in der Familienplanungsstelle war eine meiner Aufgaben die Untersuchung von Frauen nach erlittenem Sexualdelikt. Und von Seiten der Frauenklinik war ich an Auf- und Ausbau des "Berner Modells" beteiligt, einem institutionalisierten, interdisziplinären Kriseninterventionsmodell für Opfer sexueller Gewalt.

Wofür haben Sie sich eingesetzt, und in welchen Rahmen?  
Als Mitglied (und bis 2010 Präsidentin) der ExpertInnenvereinigung von PLANeS, der schweizerischen Stiftung für sexuelle und reproduktive Gesundheit, setzte ich mich speziell dafür ein, dass der Aspekt von Gewalt in der Diskussion um sexuelle und reproduktive Gesundheit immer wieder mit einbezogen wird. Im Rahmen von PLANeS konnte ich zudem ein Lehrmittel für Prävention von sexueller Gewalt im Migrationskontext herausgeben, das drei Fachfrauen aus dem Beratungs-, Präventions- und Migrationsbereich, Jael Bueno, Barbara Dahinden und Beatrice Güntert, für Lehrkräfte und Fachleute aus der Jugendarbeit erarbeitet haben. Dieses erschien in deutsch und einer französischen und italienischen Version unter dem Titel: "Mit mir nicht. Mit dir nicht." Ich habe mich mit Überzeugung und Engagement für das Berner Modell eingesetzt, als beteiligte Ärztin am Präsenzdienst in der Frauenklinik bei der Krisenintervention und Untersuchung von Opfern sexueller Gewalt, mit dem Ziel, die äusserst schwierige Situation des Opfers voll zu respektieren und so weit als möglich eine Retraumatisierung zu verhindern. Zudem habe ich an Ausbau und Optimierung der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteurinnen mitgedacht und mich an Aus- und Weiterbildungen aktiv beteiligt. Wichtig war es auch sicherzustellen, dass eine gynäkologische und forensische Untersuchung des Opfers möglichst rasch nach dem Sexualdelikt erfolgen kann, auch wenn bei der Polizei noch keine Anzeige gemacht ist. Erst so ist es möglich, dass das Opfer sich- entsprechend beraten- eine Anzeige in Ruhe überlegen kann, ohne den Vorteil einer raschen Spurensicherung zu verlieren. 

Was hat Sie bei Ihrer Arbeit bewegt? 
Ganz wichtig war für mich, dass es in meinem Umfeld viele andere Fachpersonen gab, die sich mit viel Wissen und Können engagiert in die Zusammenarbeit und die Mitgestaltung einbrachten. 
Bewegt hat mich auch eine Hoffnung: dass es viele junge Menschen gibt, die sich mit ihrem Wissen und Können tatkräftig gegen Gewalt jeder Art, speziell auch gegen sexuelle Gewalt einsetzen. 

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben? 
Entscheidend für die Weiterentwicklung des Berner Modells, dieser opferzentrierten Zusammenarbeit, waren einerseits die grosse Motivation und Einsatzbereitschaft der Akteurinnen auf der operationellen Ebene und anderseits die klare und entschiedene Stützung durch die Entscheidungsträger der verschiedenen Institutionen (Stadt- bzw. Kantonspolizei, Frauenklinik, Rechtsmedizin, Fachstelle der Opferhilfe bei sexueller Gewalt Lantana, Frauenhaus, richterliche Instanzen). Eine spezielle Herausforderung, gerade auch angesichts der sehr unterschiedlichen institutionellen Betriebskulturen, bedeutete es, Berührungsängste und Rivalitäten abzubauen, Kritiken ernst zu nehmen, die verschiedenen professionellen Stärken gegenseitig zu schätzen und die eigenen Schwächen überwinden zu lernen. Die Rahmenbedingungen des Berner Modells sind zudem heute in wesentlichen Teilbereichen durch das Opferhilfegesetz unterlegt. 

Was sind wichtige Entwicklungen, die noch stattfinden müssen? 
Als Thema ist sexuelle Gewalt noch immer tabuisiert. Trotz engagierter Arbeit auf verschiedenen Ebenen sind weiterhin grosse Anstrengungen unumgänglich, sowohl im Umgang mit Opfern wie auch in der Prävention. 

Wer ist für Sie ein Vorbild zu diesem Thema?
Vorbilder sind zum Beispiel die Berner Kriminalbeamtinnen, die trotz der offensichtlichen Mehrbelastung überzeugt waren von der Wichtigkeit ihres Frauenpikett- Dienstes im Rahmen des Berner Modells, sodass sie als Antwort auf eine Sparrunde mit der Verfügung der Abschaffung dieses Dienstes eigenmächtig beschlossen, weiterhin den Pikett zu fordern und zu leisten. 
Das sind zum Bespiel auch die vielen mutigen Frauen, die sich irgendwo in dieser Welt, trotz aussichtsloser, widrigster Umstände, trotz persönlicher Bedrohungen und oft beträchtlichem, persönlichem Risiko weiterhin laut und tatkräftig und fantasievoll gegen Gewalt und für ihr Recht auf sexuelle Gesundheit einsetzen. 
Und ausserdem: ich bin stolz auf all die Frauen, die gemeinsam dieses "Berner Modell- Vernetzte Hilfe bei sexueller Gewalt“ angedacht haben und vor nun 25 Jahren praktisch umzusetzen begannen. Im Umgang mit Opfern ist das sogenannte „Berner Modell“ europaweit eines der drei ältesten interdiszinlinären Angebote für Opfer sexueller Gewalt; es ist aber in der föderalistischen Schweiz auch heute noch nicht allgemein gefordert und umgesetzt. Es entspricht jedoch den Anforderungen, wie sie die WHO in ihren entsprechenden Guidelines 2003 für alle postuliert hat.