Samstag, 3. Dezember 2011


Irene Pellet ist Polizistin und arbeitet bei der Regionalfahndung Bern. Sie ist ausgebildete Krankenschwester und absolvierte später die Grundausbildung bei der Polizei.
  
Frau Pellet, Sie  haben bei Ihrer Arbeit  mit sexueller Gewalt zu tun. Inwiefern?
Als Mitarbeiterin der Regionalfahndung habe ich seit über 20 Jahren im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder Verdachtsabklärungen häufig mit betroffenen Frauen und Mädchen zu tun. Konkret handelt es sich um Befragungen oder Einvernahmen, Begleitung zu Untersuchungen, Tatortbegehungen und so weiter. Die Kontakte finden nicht selten direkt nach dem Ereignis statt.

Wofür setzen Sie sich ein?
Präventionsarbeit war für mich schon vor 20 Jahren ein zentrales Thema und Anliegen. Es ging darum, den Frauen Informationen zu geben, welche entscheidend waren für ihr Verhalten bei einem Angriff auf die sexuelle Integrität. Damals herrschte die irrige Meinung, dass es gefährlich sei für Frauen, sich zur Wehr zu setzen. Diese Meinung war nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in Polizeikreisen verbreitet. Obwohl sich in Untersuchungen mehrfach gezeigt hat, dass durch das Wehrverhalten die Täterschaft oft nicht zu ihrem Ziel gekommen ist, hielt sich diese falsche Meinung hartnäckig. Durch Öffentlichkeitsarbeit und langjährige Lehrtätigkeit an der Polizeischule (Grundausbildung) war mir die Möglichkeit gegeben, dem entgegenzuwirken. Im Rahmen meiner Öffentlichkeitsarbeit thematisierte ich das Selbstbewusstsein der Frau, das Grenzen-setzen, „Nein“-sagen und  Widerstand leisten sowie die Abläufe bei der Anzeigeerstattung und der polizeilichen Einvernahme.  Ein besonderes Anliegen war es mir, den Frauen die Angst vor Polizei und Justiz zu nehmen. Nur bei erfolgter Anzeige konnte der Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Ohne Anzeige wurde er nicht behelligt, was einer Belohnung gleichkam. Und nebst all dem Juristischen und Formellen war mir die zwischenmenschliche Ebene immer ein zentrales Anliegen. Opfer und polizeiliche Sachbearbeiterin haben über eine längere Zeit intensiven Kontakt miteinander. Obwohl jegliches Handeln im Rahmen des Verfahrens zielgerichtet ist, ergeben sich nicht selten Gespräche ausserhalb der zu bearbeitenden Angelegenheit. Hier ist nicht primär kriminalistisches Denken und Handeln gefragt, sondern die zwischenmenschliche Ebene mit Empathie und Zeit zum Zuhören.

Was bewegt Sie bei Ihrer Arbeit?
Es bewegt mich, wenn ich Menschen in Endlos-Schlaufen sehe, Situationen, in denen es den Frauen nicht gelingt, auszusteigen, trotz wiederholter Versuche. Sie erleben Gewalt, bäumen sich auf, versuchen sich zu wehren, machen einen ersten Schritt, erstatten Anzeige - und ziehen dann alles zurück. Das Verfahren wird eingestellt und nach einiger Zeit beginnt der gleiche mühsame Weg von vorne, immer wieder, endlos… Es sind diese oder ähnliche Situationen, welche praktisch bei allen Involvierten ein starkes Gefühl der Ohnmacht zurücklassen. 
Zudem bewegen mich die Abgründe der virtuellen Welt.  Durch das Internet ist der Zugang zu verbotener Pornografie, also der Darstellung von sexuellen Handlungen mit Kindern, Tieren oder Gewalttätigkeiten, sehr einfach geworden, das Angebot ist immens. Sexuelle Devianz wird nicht mehr als solche wahrgenommen. Statt therapeutischer Massnahmen wird das Verhalten als normal empfunden, und die Phantasien werden frei ausgelebt. Zu Beginn mag der Konsum noch durch eine gewisse Hemmschwelle gebremst und eher punktuell sein. Um die entsprechende sexuelle Stimulation zu erzeugen, braucht es aber immer mehr und immer härtere Szenen. Diese sind oft unvorstellbar an Dekadenz und Abgrundlosigkeit!

Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen war in früheren Zeiten stark geprägt von männlicher Wahrnehmung und Wertung. Dies war bei Polizei und Justiz nicht anders. Die bei betroffenen Frauen und Mädchen häufig vorhandenen Schuldgefühle wurden nicht selten verstärkt mit unsensiblen Fragestellungen. Zudem wurde das Opfer über Verfahrensverlauf und Procedere zu wenig informiert. Die Frauen standen nach der Befragung durch die Polizei oft „im luftleeren Raum“ und fühlten sich vollends alleingelassen.  Mit dem Berner Modell entstand eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, welche sich im Verlaufe der Jahre als optimal herausstellte. So nahm ich es jedenfalls wahr. Der Austausch von Erfahrung und Knowhow sowie die Tatsache, dass man sich persönlich kennt, waren eine enorme Bereicherung. Es gelang relativ rasch, gegenseitig vorhandene Vorurteile und Stereotype, zum Beispiel zwischen Polizei und Personen aus dem psychosozialen Bereich, abzubauen. Im Verlaufe der Jahre- später auch verstärkt durch das Opferhilfegesetz- wurde ein Vorgehen etabliert, welches eine sachliche und professionelle Fallbearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Integrität gewährleistete, wobei die  Persönlichkeitsrechte des Opfers auf allen Stufen des Verfahrens respektiert wurden.  Betroffene Frauen und Mädchen haben unter anderem das Recht, von weiblichen Personen befragt zu werden, ihre Aussagen und Anliegen werden ernst genommen. Sie erhalten sehr umfangreiche Informationen. Transparenz und Offenheit sind das A und O. Manchmal frage ich mich allerdings, ob den Betroffenen dabei nicht sogar zu viele Informationen zugemutet werden.  
Eine weitere wichtige Entwicklung betrifft die sexuelle Gewalt in der Ehe. Übergriffe durch den Ehemann wurden vor vielen Jahren marginal thematisiert. Vergewaltigung in der Ehe war ein Antragsdelikt, und es erfolgten selten Strafanzeigen. Erst als es zum Offizialdelikt wurde, änderte sich dies, und es kam vermehrt zu Anzeigen.

Was sind Entwicklungen, die noch stattfinden müssen?
Eine Sensibilisierung der jungen Leute, auch männlichen Geschlechts! Es muss breite Präventions- und Aufklärungsarbeit, auch in den Schulen, bezüglich sexueller Gewalt im Zusammenhang  den neuen Medien, mit Internetforen und Natels geleistet werden. Der Verrohung junger Leute aufgrund häufigen Pornokonsums muss entgegengewirkt werden.

Wer war für Sie ein Vorbild zum Thema?
Es waren einzelne, sehr engagierte Frauen mit viel Pioniergeist und der notwendigen Hartnäckigkeit. Vorbild waren und sind für mich auch Personen, die bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik die Lebensfreude und den Humor nicht verlieren.  

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