Mittwoch, 7. Dezember 2011


Pia Thormann hat ihr Psychologiestudium in Bern absolviert. Sie machte eine Ausbildung in psychoanalytischer Psychotherapie am Psychoanalytischen Seminar in Bern. Sie arbeitet zu 50% als Fachpsychologin für Psychotherapie FSP in der Beratungsstelle der Berner Hochschulen und hat eine Privatpraxis als Psychotherapeutin.

Sie hatten und haben bei Ihrer Arbeit mit sexueller Gewalt zu tun. Inwiefern?
Ich arbeitete von 1990 bis 2001 als Beraterin im Team der Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen, welche heute Lantana heisst. In den ersten Jahren bauten wir diese Stelle auf. Neben der Beratungsarbeit leisteten wir Öffentlichkeitsarbeit und gaben Weiterbildungen, so z.B. für angehendende Gerichtspersonen. Wir vernetzten uns im Rahmen des Berner Modells mit der Familienplanungsstelle, mit der Polizei, dem Institut für Rechtsmedizin und ausserhalb mit gerichtlichen Behörden, PsychotherapeutInnen und AnwältInnen. Zudem teilten wir Mitarbeiterinnen uns während mehrerer Jahre in die Leitungsaufgaben, vertrat ich die Stelle in der Trägerschaft, an den nationalen Nottelefontreffen und den nationalen Vernetzungstreffen bezüglich sexueller Ausbeutung in Abhängigkeitsbeziehungen. Daneben war ich einige Jahre Mitglied der Kantonalen Frauenkommision und engagierte ich mich auf städtischer und nationaler (Limita) Ebene gegen sexuelle Ausbeutung in der Kindheit. Privat erarbeitete ich 1997 zusammen mit der Theologin Eva Südbeck-Baur im Auftrag des Dekanates Bern Stadt der römisch-katholischen Kirche ein Grundlagenpapier zu sexueller Ausbeutung in der Seelsorge. Ich habe in den 12 Jahren beruflicher Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt viel gelernt, sowohl in beraterisch-psychotherapeutischer Hinsicht, wie auch auf den Gebieten der Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit und Organisationsentwicklung. Rückblickend gewann ich zudem den Eindruck, dass die Arbeit mit traumatisierten Menschen einen grossen Einfluss auf die Dynamik unseres Teams hatte. Wir brauchten einander, um diese auf die Dauer tragen und in der Form von Öffentlichkeitsarbeit einen Beitrag gegen sexuelle Gewalt leisten zu können. Wir waren gezwungen, Konflikte zu klären und entwickelten eine entsprechende Teamkultur.          
Im Rahmen meiner heutigen beruflichen Tätigkeiten an der Beratungsstelle der Berner Hochschulen und als Psychotherapeutin in privater Praxis sind Erfahrungen sexueller Gewalt weiterhin ein Thema, allerdings nicht mehr in derselben Ausschliesslichkeit wie früher.  Geblieben ist mir die Funktion als Ansprechperson bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz für Studierende der Berner Hochschulen. 
Die Jahre meiner Berufstätigkeit im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen waren stark vom Aufbau und der Weiterentwicklung der Beratungsstelle geprägt, auf die ich hier kurz eingehen möchte. Ende 1989 wurde die Stelle erstmals subventioniert, damals noch von der Stadt Bern, eine aus heutiger Sicht seltsam regional anmutende Entscheidung. Damals verfügten wir über 100 Stellenprozente, die wir uns zu dritt teilten. Beim Aufbau der Beratungsstelle konnten wir uns auf die fachliche und politische Vorarbeit von- seit 1983 in Vereinsform ehrenamtlich engagierten- Frauen stützen. Der damalige Name, "Informations- und Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen", war Programm: neben der Beratung betroffener Frauen wollten wir einen Informationsauftrag haben, uns auf gesellschaftlich-politischer Ebene für die Rechte Betroffener und gegen sexuelle Gewalt einsetzen können. In diese erste Zeit fiel auch die Entwicklung des sogenannten "Berner Modells", einer interinstitutionellen Zusammenarbeit zwischen Beratungsstelle, Familienplanungsstelle, Institut für Rechtsmedizin und Polizei. Diese zu etablieren, war nicht einfach, zumal sich die Interessen der Deliktverfolgung und diejenigen der Betroffenen in einigen Punkten widersprachen und die Beratungsstelle als feministisches Projekt unter dem Verdacht stand, Anzeigen eher zu verhindern als zu fördern. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es den VertreterInnen der beteiligten Institutionen jedoch, das gegenseitige Vertrauen durch konkrete Erfahrungen der Zusammenarbeit und regelmässige Austauschtreffen zu stärken und das Berner Modell als gemeinsames Angebot für Betroffene in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. 
1993 trat das Opferhilfegesetz in Kraft, eine Chance, die wir Mitarbeiterinnen nutzten, um uns für den inhaltlichen und stellenmässigen Ausbau der Beratungsstelle einzusetzen. Diese erhielt dann auch die Anerkennung als kantonale Opferberatungsstelle, wurde neu vom Kanton subventioniert und mit 360 Stellenprozenten ausgestattet, was uns ein zusätzliches Beratungsangebot im Bereich der sexuellen Ausbeutung von Mädchen ermöglichte. Wir liessen daraufhin schweren Herzens den Informationsauftrag im Stellennamen fallen und änderten diesen in "Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen". Soviel zu den ersten Jahren. In den darauf folgenden beschäftigte uns neben dem Beratungsalltag der personelle und inhaltiliche Ausbau, die damit verbundene neue Arbeitsteilung zwischen den Bereichen sexueller Gewalt im Erwachsenenalter und sexueller Ausbeutung in der Kindheit, die Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Mitarbeiterinnen, die Auseinandersetzung mit Leitungsfragen, der Übergang von einem Team aus Frauen ohne mütterliche Aufgaben zu einem diesbezüglich gemischten Team und verschiedene Veränderungen im Bereich der Trägerorganisation, des Stiftungsrates Frauenhaus Bern. Kurz nach meinem Stellenwechsel fiel die Namenswahl auf den heute noch aktuellen Namen „Lantana, Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt“.

Wofür setzten und setzen Sie sich ein? Warum?
Speziell setze ich mich mit sexeller Ausbeutung in Abhängigkeitsbeziehungen auseinander, der sexuellen Ausbeutung durch Fachpersonen wie Psychotherapeuten, Priester, Pfarrer, Lehrer, Ärzte und, weniger zahlreich, auch durch deren Berufskolleginnen. Ich begleitete Betroffene, setze mich mit Berufsverbänden und Institutionen auseinander, in denen die Täter arbeiteteten, gab Weiterbildungen zu diesem Thema und leistete Öffentlichkeitsarbeit. Warum ich mich dafür einsetzte? Weil mich Betroffene mit ihrer Erfahrung konfrontierten und ich einen Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion und Hilfestellung leisten wollte, wie beispielsweise durch die Mitarbeit an der Broschüre "sexuelle Belästigung und sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz Kirche". Zudem war es für mein eigenes Wohlergehen unentbehrlich, mich in meiner Arbeit im Bereich sexueller Gewalt gegen Frauen und Mächen neben der individuellen Begleitung auch auf gesellschaftlicher Ebene engagieren zu können. Dies aus politischen Gründen und um den in der Beratung häufig erlebten Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins die Erfahrung gegenüber zu stellen, etwas tun zu können- für Betroffene und zur Prävention sexueller Gewalt.     


Was bewegt Sie bei Ihrer Arbeit?
In der Begegnung mit von sexueller Gewalt betroffenen Frauen berührte und berührt mich immer wieder die Erschütterung, die sie während den sexuellen Übergriffen und auch später immer wieder erleben. Auch die in den Beratungen häufig gestellte Frage nach dem weshalb, dem Sinn der Tat hat mich bewegt; an und für sich, als Frage, und durch ihren Gegensatz zum in aller Regel fraglosen Vorgehen der Täter. Beeindruckt haben mich zudem die unterschiedlichen Wege der Verarbeitung und biographischen Integration des Geschehenen, die Betroffene für sich finden. 


Was sind für Sie wichtige Entwicklungen, die stattgefunden haben?
Wichtig war für mich die, zu Beginn vor allem von Feministinnen getragene, öffentliche Diskussion sexueller Gewalt und Ausbeutung als eine Form der persönlichen und gesellschaftlichen Machtausübung, die am häufigsten von Männern gegenüber Frauen und Kindern angewandt wird. In der Folge entstanden konkrete Hilfsangebote und Veränderungen im Bereich der Opferhilfe und des Sexualstrafrechtes, wie beispielsweise die Anerkennung von Vergewaltigung in der Ehe als Delikt.  


Was sind wichtige Entwicklungen, die noch stattfinden müssen?
Heute kann ich einzig allgemeine Anliegen nennen, wie Gleichstellung, Sensibilisierung durch Öffentlichkeitsarbeit und Weiterbildung, Entwicklung einer Haltung des Hinschauens, Benennens, Stellung nehmens, ggf. auch Handelns. Für das Anstossen konkreter Schritte bin ich unterdessen in meinem beruflichen Alltag zu weit weg, um etwas beitragen zu können.  

Wer ist für Sie ein Vorbild zu diesem Thema?
In der langen Zeit meines beruflichen Engagements habe ich Einiges an Pionierinnenarbeit mitgetragen und dabei immer wieder viel von anderen gelernt. Ich denke dabei sowohl an Klientinnen, wie auch an Weiterbildungen (z. B. diejenigen von Rosemarie Steinhage zu sexueller Ausbeutung in der Kindheit), an Super- und Intervisionen und an die Zusammenarbeit mit PsychotherapeutInnen, AnwältInnen, RichterInnen und vor allem auch im Team. Beeindruckt haben mich all diejenigen, die Berührbarkeit und genaues Hinschauen in ihrer Arbeit immer wieder zusammenbringen und in deren Engagement ich Lebendigkeit und Humor spürte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen